Experten aus der deutschen Orthopädie und Unfallchirurgie sprechen sich im Gegensatz zu den Verfassern der BMJ-Übersichtsarbeit für gezielte Interventionen statt pauschaler Ablehnung aus und plädieren für eine individuelle Schmerztherapie. Sie appellieren an Wissenschaftler, Kliniker und politische Entscheidungsträger, die Komplexität chronischer Wirbelsäulenschmerzen zu berücksichtigen und sowohl die Forschung als auch den Zugang zu bewährten Verfahren weiter zu fördern. Entscheidend ist, dass Injektionen nur dann eingesetzt werden, wenn sie leitliniengerecht erfolgen und medizinisch sinnvoll sind. „Aus unserer Sicht bleiben in der BMJ-Übersichtsarbeit die Patientenpräferenzen unberücksichtigt“, sagt Prof. Michael Winking, er ist BVOU-Referatsleiter Wirbelsäule. „Viele Betroffene entscheiden sich bewusst für Injektionen an der Wirbelsäule, weil sie aus Erfahrung wissen, dass sie Schmerzen lindern. Eine generelle Ablehnung solcher Maßnahmen wird ihrer individuellen Situation nicht gerecht.“
Übersichtsarbeit mischt unterschiedliche Patientengruppen, Krankheitsbilder und Verfahren
Die Stellungnahme zur BMJ-Übersichtsarbeit entstand unter Federführung der DGOU-Sektion „Interdisziplinäre Gesellschaft für orthopädische/unfallchirurgische und allgemeine Schmerztherapie“ (IGOST). Sie kritisiert, dass unterschiedliche Patientengruppen, Krankheitsbilder und Verfahren gemischt werden, was zu verzerrten und schwer interpretierbaren Ergebnissen führt. „Generalisierungen können zu Fehlschlüssen führen, da wichtige Unterschiede nicht berücksichtigt werden. Vereinfachungen können zu falschen Annahmen und zu unangemessenen Entscheidungen führen. Wir zeigen exemplarisch auf, dass eine Differenzierung zu anderen Ergebnissen führt als eine Verallgemeinerung“, sagt Dr. Markus Schneider, Präsident der IGOST.
Denn Injektionen an der Wirbelsäule können helfen, Schmerzen und Entzündungen bei bestimmten Erkrankungen zu lindern. Dies schafft die Voraussetzung, dass Betroffene wieder aktiver werden und mit gezielter Bewegungstherapie ihre Muskulatur stärken. „Die Injektionstherapie ist jedoch kein alleiniger Lösungsweg, sondern immer Teil eines umfassenden Behandlungskonzepts. Dazu gehören auch Medikamente, Physiotherapie sowie Übungen, die Patienten selbst durchführen können. Ebenso wichtig ist die Aufklärung über ein rückenfreundliches Verhalten im Alltag“, sagt Prof. Dr. Bernd Kladny, stellvertretender DGOU-Generalsekretär.
Häufig angewendete interventionelle Wirbelsäulenverfahren bei chronischen Rücken- und Nackenschmerzen sind epidurale Injektionen und die Radiofrequenz-Denervation:
- Bei epiduralen Injektionen handelt es sind um eine minimalinvasive Methode zur Schmerztherapie, die vor allem bei Rücken- und Nervenschmerzen eingesetzt wird. Dabei wird ein entzündungshemmendes Medikament, meist ein Kortisonpräparat, zusammen mit einem örtlichen Betäubungsmittel in den Epiduralraum verabreicht – also den Raum zwischen der harten Rückenmarkshaut (Dura mater) und der Wirbelsäule.
- Eine Radiofrequenz-Denervation (auch Radiofrequenzablation oder RFA) ist ein minimalinvasives Verfahren zur Schmerztherapie, das vor allem bei chronischen Rückenschmerzen oder Schmerzen der kleinen Wirbelgelenke (Facettengelenke) angewendet wird. Dabei werden gezielt Nervenfasern, die Schmerzsignale weiterleiten, durch Hitze verödet.
Zusammenfassung
Interventionelle Wirbelsäulenverfahren dürfen nicht als Allheilmittel betrachtet werden. Sie sind aber ein wichtiger Bestandteil eines multimodalen Ansatzes zur Behandlung von spezifischen Wirbelsäulenschmerzen, der auch weitere medikamentöse Einstellung und physiotherapeutische Maßnahmen und kognitive Verhaltenstherapie umfasst. „Interventionelle Verfahren können bei richtig ausgewählten Patienten eine erhebliche Schmerzlinderung und Funktionsverbesserung bieten und dazu beitragen, invasive Operationen oder langfristige Schmerzmittelabhängigkeit zu vermeiden“, sagt Dr. Johannes Flechtenmacher, ehemaliger BVOU-Präsident. Abschließend betonen Fachgesellschaft und Berufsverband für Orthopädie und Unfallchirurgie, dass interdisziplinäre Zusammenarbeit und eine sorgfältige Auswahl der besten Behandlungsoptionen entscheidend sind, um chronische Wirbelsäulenschmerzen effektiv zu behandeln. Eine fundierte Entscheidung über den Einsatz interventioneller Verfahren sollte immer in enger Absprache mit den Patienten getroffen werden, unter Berücksichtigung ihrer individuellen Bedürfnisse und Präferenzen.
Referenzen
- Commonly used interventional procedures for non-cancer chronic spine pain: a clinical practice guideline
BMJ 2025; 388 (Published 19 February 2025) Cite this as: BMJ 2025;388:e079970
- Klessinger, Stephan; Schneider, Markus (IGOST): Stellungnahme zur BMJ-Übersichtsarbeit: „Eine starke Verallgemeinerung kann zu unangemessenen Empfehlungen führen“ – Kommentar zur Zusammenfassung der Praxisleitlinie von Busse et al.
Leitlinien
- Klessinger S, Wiechert K, Deutsche Wirbelsäulengesellschaft. S3-Leitlinie Radiofrequenz-Denervation der Facettengelenke und des ISG. Version 01, 2023.
- Klessinger S, Wiechert K, Deutsche Wirbelsäulengesellschaft. S3-Leitlinie Epidurale Injektionen bei degenerativen Erkrankungen. Version 1, öffentliche Konsultation 2025.